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Kommentar von Irina Korina

Moskauer Künstlerinnen - eine Auswahl von Irina Korina

Kuratorin Irina Korina über ihre Künstlerauswahl

In Moskau leben zahlreiche Künstler./ Im Allgemeinen kennt jeder jeden./ Nicht alle sind sich jedoch freundschaftlich gesinnt/einige sind sogar ideologische Feinde./ Befreundet ist man normalerweise aus Überzeugung/ oder auf Grund des gleichen Alters./Oder weil man miteinander studiert hat/weil man Tür an Tür wohnt/oder gemeinsam wohin gefahren ist./ Einige Künstler sind bekannter und erfolgreicher/ einige erfahrener./ Für diesen Text habe ich meine Freunde, die derzeit zu den interessantesten und aktivsten Moskauer Kunstschaffenden zählen, gebeten, von ihren letzten Projekten zu erzählen.


ABC (Art Business Consulting)-„Wir machen Kunst.“

Experiment: „451 °F. Weder digital noch analog“
Die Art der Tätigkeit von ABC besteht in der aktiven und ständigen Nutzung vielfältiger digitaler, in Büroräume integrierter Anlagen. ABC hat in ihren Experimenten mehrmals den so genannten empirischen „Effekt der Umkehrung der totalen Digitalisierung“ festgehalten. Es zeigt sich, dass der konsequente und unmenschliche Prozess der weltweiten Digitalisierung allen Seins paradoxerweise mit der Rehabilitierung traditioneller Werte in zwischenmenschlichen Beziehungen und der Konservierung von Kunstgeschmack und künstlerischen Ideen und Vorstellungen einhergeht. Ziel der experimentellen Arbeit von ABC ist die Untersuchung der Grenztemperaturbedingungen in diesem Prozess des Umkehr-Übergangs vom Digitalen zum Analogen und der mit diesem Prozess verbundenen Analogie der „Verwandlung von Dingen und Wesen in Asche“.

ABC wurde 2001 gegründet. MAKSIM ILJUCHIN, geb. 1977 in New York, Studium am Moskauer Institut für Elektrotechnik. NATALJA STRUCKOVA, geb. in Moskau, Studium am Moskauer Architekturinstitut (MARCHI). MICHAIL KOSOLAPOV, geb. 1961 in Zurjupinsk (Ukraine), Studium der Flussschifffahrt.


Elena Kovylina - Die Entführung von Assistentin Riccarda
(Berlin, Potsdam, 27. Oktober 2003)

Was bedeutet „Kunst und Verbrechen“? Enthält diese Wortfügung als Sinnprämisse die Kompatibilität der eigentlichen Begriffe? Die Fragestellung ist provokativ und fordert vom Künstler das Aufzeigen der Gleichsetzung und des Unterschieds: Auf welche Weise beziehen sich die Territorien der Kunst und des Verbrechens aufeinander, können sie zusammenfallen – auf dem Gebiet des Sinns, auf dem Gebiet der Figuration? Was ist eigentlich gemeint?
Was kann denn der Künstler tun – die Idee des Verbrechens illustrieren, ein gewisses „künstlerisches Verbrechen“ begehen oder die Adäquatheit dieser Frage selbst anzweifeln? Die Kunst soll ja nicht illustrieren oder beschönigen, sondern erschaffen, folglich: Man muss ein Verbrechen begehen.
Wir beschließen, ein Verbrechen zu begehen. Wir beschließen, einen Menschen zu entführen. Es handelt sich um eine Assistentin, die am Hebbel- Theater arbeitet. Es ist ihre Arbeit, bei der Realisierung der Projekte behilflich zu sein. Also auch beim Begehen eines Verbrechens? – Nein, nur beim Aufhängen von Fotos, Erteilen von Hinweisen oder vielleicht bei der Aussendung von E-Mails.
Der Künstler muss darauf verzichten, etwas anderes zu illustrieren, zu zeigen oder zu bewerten außer dem, womit er sich selber befasst. Darf er sich mit einem Verbrechen befassen, es begehen, d. h. es als Ereignis erzeugen? Symbolische Morde, rituelle Verbrennungen mit einer Prise Ironie, die Fotos der Verbrecher an der Wand – all das hat mit dem Verbrechen nichts zu tun: Aussagen über dies und jenes, „zum Thema“ und „zur Frage“. Wir werden sie entführen. Dieser Gedanke kommt einem unverhofft in den Sinn: Besseres gibt es nicht! Wir entführen die Assistentin – denn es wäre doch widerlich, müsste ein Projekt über das Verbrechen legal aussehen. Zuerst muss man das mit den Kuratoren besprechen, nicht wahr? Was, wenn es ihnen nicht gefällt? Was, wenn sie es mit der Angst kriegen? Von welchem Verbrechen kann dann, Teufel noch eins, die Rede sein, wenn alles tipptopp organisiert zu sein hat?
Diese Handlung ist absolut unrepräsentativ. Sie wird von nichts berichten außer von sich selbst. Liegt nicht eben darin das Ziel und der Sinn des Wortes „ein Verbrechen begehen“? Wir tun etwas Überflüssiges, etwas Unnötiges, etwas, worauf man verzichten könnte, etwas, ohne das die meisten Menschen mühelos auskommen, etwas, was die Frage „Wozu?“ aufwirft. Jenseits des Illustrativen, jenseits der Ironie, jenseits des lustigen Einfalls eines Künstlers. So, dass es nicht möglich wäre zu sagen: „Oh, das ist aber lustig!“ So, dass es nicht möglich wäre zu sagen: „Oh, das ist aber nicht schlecht!“
Elena bittet das Mädchen ins Auto, unter einem Vorwand. Sie steigt natürlich freiwillig ein, ohne physische Nötigung. Sie wird gebeten, ein Stück mitzufahren, denn sie bekomme als Assistentin etwas zu sehen, worüber dann gemeinsam beraten werde. Doch an der Ampel springen zwei Personen mit schwarzen Brillen und Perücken ins Auto. Das ist eine Entführung, klar! Wir fahren die Assistentin fort. Wohin wir fahren? Ist das nicht zu umständlich? Findet das jemand zum Lachen?
Zugegeben, wir waren inkonsequent. Zugegeben, wir haben sie nicht erstochen, keine Forderungen gestellt, sie nicht zur Ausstellungseröffnung ins Theater zur allgemeinen Belustigung gebracht.
Vielleicht reicht es, dass wir das Mädchen, ohne besonderen Plan, in einen Wald bei Potsdam fahren. Wir brechen in einem bestimmten Moment nicht in Lachen aus und fragen sie: „Na, wie ist das werte Befinden?“ – wir schmeißen sie einfach im Wald raus. Steigen ins Auto und fahren weg.
Mehr war ja nicht verlangt, oder? (Text: Petr Bystrov)

ELENA KOVYLINA. 1971 in Moskau geboren. Lebt in Berlin und Moskau.

Maksim Karakulov - Neue Kunsttheorie


„Und wenn es funktioniert, werden wir eine völlig andere Kunst erfunden haben …“

Das moderne Einkaufszentrum erweist sich als bestens geeignet für die Entstehung eines neuen Kunst-Territoriums. Hier treffen Menschen zusammen, die sonst durch Arbeitswelt und soziale Barrieren voneinander getrennt sind. Hier sind sie vereint durch dieselben Interessen und ähnliche Motive. Seinerzeit traten Gaukler und Tanzbären auf Märkten auf, heute drängt zeitgenössische Kunst in die Einkaufszentren. Diese neue Umgebung macht Kunst deshalb nicht einfacher oder gar trivial – im Gegenteil: Ihre Wirkung erhöht sich. Allein durch seine alltägliche, physische Co-Präsenz beginnt das Kunstwerk am Leben eines jeden Kaufhausbesuchers teilzuhaben, auch wenn dieser das zunächst weder bemerkt noch versteht. Wir sind davon überzeugt, dass die Aura, die jedes Kunstwerk unwillkürlich um sich herum erzeugt, neue Standards der Wahrnehmung setzt. Unmerklich eröffnet sie neue Erfahrungshorizonte und wird so zu einer normalen und notwendigen Erscheinung des modernen Lebens.


MAKSIM KARAKULOV. 1977 in Uvarovka (Region Moskau) geboren. Studium an der Lomonosov-Universität. Mitglied der Künstlergruppe „Radek“. Lebt in Moskau.


Vladis Sapovalov - "Kaufen oder stehlen?"

Ich stehle manchmal Bücher in Geschäften. Eigentlich begann ich damit, als die Buchpreise infolge der berüchtigten Finanzkrise (im August 1998, Anm. d. Red.) in die Höhe schnellten. Am Anfang versuchte ich, mich an eine Art Konvention zu halten und sozusagen „nach Regeln zu spielen“ – ich kaufte ein Buch, stahl zwei oder drei und senkte so die „überhöhten Räuberpreise“. Später, als ich Diebstahl als eine Art Kulturpraxis zu betrachten begann, verlagerten sich die „konventionellen“ Diebstähle in das Feld der reinen Ästhetik. Bücher zu stehlen ist sehr einfach. Viele tun es – und zwar in rauen Mengen. Im traditionellen intellektuellen Bewusstsein gilt aber gerade das Stehlen von Büchern als besonders geistlos und verwerflich. Die Mitarbeiter in den Geschäften fördern diesen Mythos auch noch auf jede erdenkliche Weise. Die Rücksicht auf die Feinfühligkeit des russischen Intellektuellen erlaubt ihnen nicht, Plakate mit Texten wie „Diebstahl wird gesetzlich bestraft“ aufzuhängen. Dabei wird derselbe Intellektuelle, wenn er deine dunklen Machenschaften zufällig bemerkt, dich höchstwahrscheinlich nicht verraten (es handelt sich hier um eine Art stillschweigende Übereinkunft); viel eher wird er, durch dein Beispiel beflügelt, selbst etwas stehlen – das hat sich in meiner umfassenden Praxis mehr als einmal bestätigt. Um auf ein weiteres und noch beeindruckenderes Paradoxon zu stoßen, muss man sich nicht unbedingt in gewichtige Studien zur Beziehung von Theorie und Praxis vertiefen: Auf die Frage, ob sie nicht glauben, dass einige Texte, die in ihrem Geschäft verkauft werden, zum Diebstahl geradezu herausfordern, zumindest zum Diebstahl ebendieser Texte selbst, antworten uns die Verkäufer, dass diese Texte nur geisteswissenschaftliche Studien seien und keinerlei Bezug zur Realität hätten. Ursprünglich existiert das (philosophische) Problem „kaufen oder stehlen“ nicht. Hast du Geld, dann kauf, hast du keins, dann stiehl eben, aber belaste dein Leben nicht mit Tabus einer von einem repressiven Diskurs aufgezwungenen Problematik der Wahl zwischen „schlecht, falsch und unehrenhaft“ und „gut und richtig“. Weder die eine noch die andere Kategorie existiert wirklich. Falsch ist es, sich auf eine einzige Verhaltensweise festzulegen. Seid frei!

„Das heißt, man darf auch Menschen töten?“, werden die Moralisten aufheulen. „Man darf. Wenn Ihnen das so dringlich erscheint, dann töten Sie.“

Ich liebe das Lesen und kann auf dieses Vergnügen nicht verzichten, das ist für mich eine so dringende Sache, dass ich dafür Diebstähle begehe. Wenn man die Eier des reizenden alten Herrn Lichace in einen Schraubstock quetscht und er eine Pistole in der Hand hat, dann, so denke ich, wird seine Bedrängnis schon groß genug sein, damit er seinen Quäler kaltmacht, und wenn es der Papst persönlich wäre …

Erstmals veröffentlicht in RADEK Nr. 03 – „Trash katalog“, 1999.

VLADIS ·SAPOVALOV. Geboren 1981. Mitglied der Künstlergruppe „Radek“. Lebt in Moskau.



IRINA KORINA , Kuratorin dieser Auswahl wurde 1977 in Moskau geboren. Studium an der Russischen Theaterakademie. Seit 2002 Studium an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Lebt in Moskau und Wien.


Text erschienen in Spike ART QUARTERLY 2004
Link:ART GUIDE OSTEUROPA, Spike Art quarterly - Lesen Sie auch "Von Retrograd bis Radikal" mit Tipps und Adressen zur Moskauer Kunstszene -